Frei vorm Tor und doch daneben: Frank Mills legendärer Pfostenschuss in seinem ersten Spiel für den BVB 1986. Lang ist’s her, aber so bittere Momente sind für die Ewigkeit. Denn nichts ist ärgerlicher als eine verpasste Chance. Das gilt beim Fußball, das gilt aber auch für den E-Commerce.
Aktuell bietet sich deutschen Online-Händlern so eine Großchance: Selten zuvor war die Gelegenheit so günstig, sich ein Stück am Schweizer E-Commerce-Kuchen abzuschneiden. Tim Riepenhausen , Vorstand der Digital-Marketing-Agentur adisfaction, sagt in einem Gastbeitrag für etailmant warum das so ist und wie Händler das nutzen können.
Am 15. Januar 2015 verkündete die Schweizerische Notenbank (SNB) die Abkehr vom Mindestkurs des Franken zum Euro. Damit änderte die SNB ihre drei Jahre lang praktizierte Strategie, den Wechselkurs zum Euro nicht unter 1,20 Franken fallen zu lassen. Es wurde ihr schlicht zu teuer, die Abwertungspolitik der Europäischen Zentralbank mitzutragen. Nun haben sich die Schweizer die Souveränität über ihre Währung zurückgeholt.
Kaum war diese Nachricht über die Ticker, reagierten die Märkte beinahe panisch. Für kurze Zeit fiel der Euro um knapp 30 Prozent und damit unter die Parität zum Franken. Einige Broker und Hedgefonds standen vor der Pleite, weil ihre Wetten auf den Franken von der SNB ausgehebelt wurden. Viele Schweizer ergriffen die Chance und kauften in den Tagen nach dem Coup mit günstig eingetauschten Euros die grenznahen Tankstellen und Supermärkte leer.
Auf absehbare Zeit wird der Franken gegenüber dem Euro stark bleiben, Deutschland also als Einkaufsland für Schweizer attraktiv bleiben. Offline, aber auch online. Händler aus dem Euro-Raum haben gegenüber Schweizer Wettbewerbern einen großen Preisvorteil – allein aufgrund des günstigen Wechselkurses. Zudem liegt das relative Preisniveau der Schweiz laut Eurostat höher als in den meisten anderen europäischen Ländern. Grob vereinfacht sind Konsumgüter in der Schweiz knapp 30 Prozent teurer als in Deutschland. Das bedeutet für deutsche Händler: Sie können trotz niedrigerer Preise höhere Margen erzielen.
Handel Schweiz, der Dachverband der Schweizer Handelsunternehmen, ahnt bereits, was seinen Mitgliedern blüht. Der Wettbewerbsdruck aus dem Ausland steigt, während die Exportchancen angesichts des starken Franken sinken. Schweizer Händler müssen sich nun doppelt anstrengen, um ihre Marktanteile zu behaupten.
Grundsätzlich gibt es für expansionswillige deutsche E-Commercler zwei Modelle. Sie können aus Deutschland in die Schweiz exportieren oder einen Schweizer Ableger gründen.
Wer weiter aus seinem Online-Shop in Deutschland versenden möchte, muss angesichts des größeren Geschäftsgebiets bzw. der größeren Zielgruppe insbesondere sein Marketing ausweiten. Im Hinblick auf die Warenausfuhr kann eine Sammelverzollung anstelle der Verzollung jedes einzelnen Pakets vereinbart werden. Einfuhrumsatzsteuer und Zölle werden an die Schweiz abgeführt. Die Rechnung weist die örtliche Mehrwertsteuer aus. Damit macht es für den Schweizer Kunden keinen Unterschied mehr, ob er bei einem heimischen oder einem deutschen Händler einkauft.
In puncto Mehrwertsteuer empfiehlt sich das bewährte Modell der Fiskalvertretung. Häufig übernimmt ein Logistikpartner vor Ort diese Rolle. Dieser Partner vertritt den Händler gegenüber den Schweizer Steuerbehörden – und bietet im besten Fall noch eine kundenfreundliche Retourenlösung an.
Der Aufbau einer Dependance in der Schweiz ist mit größerem finanziellem und administrativem Aufwand verbunden. Dieser Schritt rechnet sich vor allem für große Player. Wer diesen strategischen Schritt in Erwägung zieht (oder womöglich bereits geht), kann gegen Schweizer Wettbewerber konkrete Preisvorteile ins Feld führen. Der Wechselkursvorteil macht es möglich: Auch wenn die Preise im Schweizer Store um 20 Prozent gesenkt werden, verdient der Betreiber genauso viel wie zuvor.
Natürlich gibt es noch mehr zu beachten. Hier drei der wichtigsten Punkte:
- Die Sprache: Deutsch ist die Muttersprache von rund zwei Dritteln der Schweizer Bevölkerung. Von ein paar Helvetismen (z. B. kein „ß“) abgesehen besteht keine Sprachbarriere. Aber auch die anderen Sprachgebiete, insbesondere die frankophone Romandie mit 1,75 Millionen Menschen, sollten nicht ignoriert werden.
- Die Regionen: Die Kaufkraft der Schweizer variiert von Kanton zu Kanton. Im Kaufkraft-Ranking liegen Zug, Schwyz und Nidwalden noch vor Zürich. Die niedrige Steuerbelastung in diesen Kantonen lockt Einkommensstarke an. Solche Besonderheiten sind zu berücksichtigen, wenn es um regionales Targeting geht.
- Der Partner: Die Schweiz ist anders – in vielerlei Hinsicht. So fühlen sich viele Schweizer durch die deutsche Direktheit verstört. Andersherum hat sich manch ein deutscher Marketer schon darüber gewundert, dass Mediaplanung und Media Sales in der Schweiz nicht so scharf getrennt sind wie hierzulande. Zwei Beispiele von vielen. Um Fettnäpfchen zu vermeiden und das Geschäft von Anfang an aufs richtige Gleis zu setzen, sollten sich deutsche Unternehmer einen Agenturpartner suchen, der sich auf beiden Seiten der Grenze auskennt.
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